Scham: Warum wir oft glauben, nicht genug zu sein
- Corinna Fleiß

- 1. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 5 Stunden

Die stille Sprache der Scham
Ich erinnere mich an einen Nachmittag. Es war still, der Wind zerrte an den kahlen Zweigen vor dem Fenster. Ich saß mit einer Tasse Tee in der Hand – warm, beruhigend – und spürte doch eine andere Kälte. Nicht draußen. In mir. Ein Gefühl, das ich schon lange kenne. Es hat keine Stimme, kein klares Gesicht. Aber es spricht. Es ist Scham.
In Anlehnung an Brené Brown lässt sich Scham als eines der schmerzhaftesten Gefühle beschreiben – ein Gefühl, das vom Schweigen lebt.
Scham – ein Gefühl, das sich leise einnistet
Scham schleicht sich ein, wenn die Welt um uns herum zu viel zu sagen hat. Wenn wir beginnen uns an Bildern zu messen, die nicht von uns stammen. Sie kommt, wenn wir uns selbst im Spiegel betrachten und uns fragen:
„Bin ich genug?“ Und bleibt.
Was Scham nährt: Ein Kreislauf aus Druck, Angst und Vergleichen
Ich erinnere mich an Momente, in denen ich mich am liebsten unsichtbar gemacht hätte. Die Enge in der Brust. Das Ziehen im Hals. Dieses fast greifbare Gefühl, nicht richtig zu sein – zu viel vielleicht. Oder nicht genug.
Ich blicke aus dem Fenster. Der Tee ist längst kalt geworden. Aber in meinem Inneren bewegt sich etwas. Noch zaghaft. Vielleicht nicht heute. Vielleicht morgen.
Und doch spüre ich: Es darf Raum geben, für alles, was da ist. Auch für die Scham. Und vielleicht fühlt sich dieses Gefühl, das so lange allein war, nun ein wenig weniger fremd an.
Scham in der digitalen Welt
In meinem Erleben zeigt sich Scham heute oft in neuen Formen. Sie versteckt sich nicht mehr nur in stillen Momenten des Alleinseins, sondern schleicht sich in die Art, wie wir uns der Welt präsentieren. In einer Zeit, in der wir uns ständig öffnen – über Fotos, Texte, Kommentare –, wird Scham zu einer stillen Begleiterin. Manchmal sitzt sie zwischen den Likes oder in ihrem Ausbleiben.
„Was denken die anderen über mich?“ Diese Frage wird zur Last, selbst in Augenblicken, die eigentlich sicher sein sollten. Der ständige Vergleich mit den scheinbar perfekten Leben hinterlässt Spuren. Scham hat sich digitalisiert. Sie tritt nicht mehr nur in der Stille auf, sondern im Strom der Öffentlichkeit – subtil und wirksam.
Wie fühlt sich Scham an?
Jede:r erlebt sie anders. Sie zeigt sich nicht immer laut oder dramatisch. Meist ist sie leise – in einem flüchtigen Blick in den Spiegel. In einem Moment des Zögerns, wenn ein Satz ausgesprochen ist und Unsicherheit bleibt. Oder beim nächsten Scrollen durch die Timeline, wo ein Gefühl aufsteigt, was sich kaum greifen lässt.
Auch ich kenne Scham als ständige Begleiterin in herausfordernden Zeiten. Sie ließ mich glauben, nicht „normal“ zu sein, als würde ein unsichtbares Schild, mich von anderen trennen.
Doch heute weiß ich: Scham ist nicht der Beweis dafür, dass wir falsch sind. Sie ist eine Reaktion. Eine Geschichte, die wir uns erzählen – nicht die Wahrheit dessen, was wir sind.
Scham und Stille
Die Stille, die Scham begleitet, ist schwerer als Worte. Sie liegt im Zögern, im Rückzug, in unausgesprochenen Gedanken. Nicht die großen Geheimnisse isolieren uns – sondern die kleinen Fragen, in denen wir uns nicht trauen, zu zeigen, wer wir wirklich sind.
In Anlehnung an Judith L. Herman lässt sich sagen:
Wenn inneres Erleben zu beschämend ist, um ausgesprochen zu werden, bleibt oft nur Schweigen – mit tiefgreifenden Folgen für das gelebte Leben.
Doch in dieser Enge liegt auch ein leiser Impuls. Eine Bewegung, die uns einlädt, uns der Scham zuzuwenden. Nicht um sie zu bekämpfen, sondern um Scham verstehen zu lernen.
Ein langsamer Weg: Scham im Erleben
Es gibt keine schnellen Antworten. Scham braucht keinen Ausweg – sie braucht Raum. Ein langsamer Weg beginnt, wenn wir erkennen, dass sie uns nicht definiert. Und dass wir nicht allein sind.
Beobachtungen aus dem Erleben von Scham
Scham benennen
Manchmal reicht es, dieses Gefühl zu benennen: „Das ist Scham.“ Es ist eine Reaktion – nicht die Wahrheit über uns.
Innere Gedanken bei Scham
Scham flüstert: „Du bist nicht genug.“ Diese Gedanken wahrzunehmen, ist der erste Schritt, sie nicht als Wahrheit zu glauben.
Scham und Beziehung
In Gesprächen, die sich sicher anfühlen, kann das Aussprechen von Scham entlasten. Es geht nicht um ein vollständiges Offenlegen, sondern um ein behutsames Teilen. Vielleicht mit einer vertrauten Person. Vielleicht in einem Tagebuch.
Innere Haltung gegenüber Scham
Scham lebt von Strenge und Ablehnung. Wenn wir beginnen, in einer sanften Sprache mit uns selbst zu sprechen, verliert sie an Kraft.
Ein anderer Blick auf Scham
Was, wenn wir nicht falsch sind – sondern einfach menschlich? Was, wenn Scham nicht das Ende ist, sondern ein leiser Anfang?
Gedanken zum Weiterdenken
Welche Gefühle tauchen auf, wenn du an Scham denkst?
Wann hast du das letzte Mal Scham bewusst wahrgenommen?
Wie gehst du mit diesen Gefühlen um?
Gibt es Menschen, mit denen du deine Scham teilen kannst?
Was würde sich ändern, wenn du Scham nicht mehr bekämpfen müsstest?
Scham verstehen als Grundlage für Verbindung
Vielleicht ist Scham nicht das, was uns zurückhält – vielleicht ist sie das, was uns zur Wahrheit führt. So wie ich es in manchen Momenten spüre, könnte es auch für dich gelten: Es ist okay, zu zeigen, was da ist – auch wenn es sich noch unsicher anfühlt.
Scham ist da, aber sie ist nicht das Ende. Sie ist der Anfang eines neuen Dialogs – mit uns selbst und mit der Welt.
♡ Corinna
Literaturempfehlungen
Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark
Stephen Marks: Scham – die tabuisierte Emotion
